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Svetlana Berillo

y = -x2 +630x .. weg sind wir!

Jüdische Kultusgemeinde Kreis Recklinghausen

Der Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Recklinghausen berechnet, wann seine Gemeinde ausstirbt. Ein eigenwilliges Mittel im Wahlkampf

Die Zukunft vorauszusagen ist bekanntlich ein urmenschliches Unterfangen. Versucht wurde es in der Geschichte der Menschheit schon auf die skurrilsten Weisen, vom Sternendeuten bis zum Kaffeesatzlesen. Auf eine wissenschaftliche Methode versteifte sich jetzt der Gemeinderatsvorsitzende der Jüdischen Gemeinde Recklinghausen. Mark Gutkin, seit vier Jahren mit dem Vorsitz betraut, wollte wissen wie überlebensfähig seine Gemeinde ist Denn: Die Gemeinde hat ein deutschlandweit nicht eben seltenes Problem - sie überaltert. Von den 606 Mitgliedern der JG Recklinghausen ist die Mehrzahl jenseits der 60. Die meisten Gemeindemitglieder sind russisch-jüdische Zuwanderer, deren Kinder und Enkel oftmals den Weg in die konfessionelle Organisation scheuen.

Angesichts der am 6. Dezember anstehenden Gemeinderatswahlen machte der promovierte Psychologe nun: «den bescheidenden Versuch> durch die Analyse der Tendenzen des heutigen Zustandes in die vorhersehbare Zukunft unserer Gemeinde zu blicken». Das schrieb Gutkin in der Herbstausgabe der Gemeindezeitung «Hoffnung-Nadjeschda» und entwarf zwei mathematische Szenarios: ein positives und ein negatives.

Nach Gutkin ist alles «sehr einfach»: «Hypothetisch kann man eine Linie der vorhersehbaren Zukunft der Gemeinde aufzeichnen und mit der Gleichung y=ax+b beschreiben.» Sollte sich die Lebenserwartung der Gemeindemitglieder nicht verändern werde die Gemeinde «die nächsten 90 Jahre» bestehen.

So die optimistische Vorhersage. Die pessimistische sollte «mit einer quadratischen Gleichung beschrieben werden: y = -x2+630x». Gutkin errechnet so ein Ende der Existenz seiner Gemeinde in «nur noch 25 Jahren».

Gutkin hegt keinen Anspruch auf «perfekte Genauigkeit», sondern möchte, dass seine Erwägungen «als Mittel für eine visuelle Darstellung» dienen mögen. Für ihn steht fest: «Während der nächsten fünf Jahre wird sich entscheiden, nach welchem der beiden Szenarien sich unsere Gemeinde entwickeln wird. Gerade deswegen sollten diejenigen, die nach den Wahlen unsere Gemeinde weiter in die Zukunft führen, das nicht nur zur Kenntnis nehmen, sondern wirklich begreifen und verstehen.»

Berechnung hin, Visualisierung her: Leider zeigt der seit vier Jahren amtierende Vorsitzende in seinem Artikel keine Strategien, Taktiken und Innovationen auf, die neuen Schwung in das erlahmte und von Überalterung bedrohte Gemeindeleben bringen könnten. Der Wahlaufruf kommt denn auch genauso verklausuliert und schwer verständlich daher, wie Gutkins Aufsatz.

Zukunftsweisendes initiierte die JG Recklinghausen dagegen in der jьngeren Vergangenheit mit Blickrichtung Israel. Die Gemeinde spendete 600 Euro für einen Kindergarten in der südisraelischen Stadt Aschdod Dieser war in der Vergangenheit von Qassam-Raketen aus dem Gazastreifen beschossen worden. Gutkins Gemeinde wollte mit dieser Direktspende ein Zeichen der Solidarität setzen. Und, nicht ganz uninteressant in dem Zusammenhang: Die Bevölkerung in Aschdod besteht zu über einem Drittel aus russisch-jüdischen Zuwanderern. Werden vielleicht die Aschdoder Kindergartenkinder die Reckfinghausener Juden von morgen sein? Möglicherweise gibt eine neue mathematische Berechnung eine Antwort auf diese Frage...

Svetlana Berillo

Jüdische Zeitung, 12/2009